Wie es dazu kam, dass ich mich in einen Ablasshändler hineinversetzte und warum ich mich für die Reformation der Kirche im Besonderen und für die Reformation von Glaubenssätzen im Allgemeinen interessiere. Ich schaue von heute aus auf die Zeiten – meine Zeit jetzt und die Zeit um 1519.

Das knisternde Züngeln der Feuerzungen, die vom Himmel auf Köpfe hinab ragen und diesen womöglich einen guten Teil des Haupthaars versengen, so dass ihnen wie Franziskanermönchen vielleicht nur ein Kranz bleibt, war meine erste tief-religiöse Erfahrung. Jedenfalls legte ich sie im Nachhinein in dieses Fach, denn von diesem Züngeln erfuhr ich – noch Kind – an einem ansonsten ganz bedeutungslosen Tag im Religionsunterricht. Kein Kreuz im Haus – außer später dasjenige aus Ton von der ersten Kommunion – und auch nicht das Beten am Tisch, gehörten bis dahin zu meinem Leben. Es war die Erzählung vom heiligen Geist, der an Pfingsten den Menschen brennend über den Köpfen züngelte. Was es damit auf sich hatte, konnten weder meine Eltern noch ich mir erklären, d.h. weder ich, noch meine Eltern, zu denen ich in der Nacht nach diesem Tag ins Bett schlüpfen wollte, doch dazu sei ich nun doch schon zu alt, meinten sie und sagten stattdessen „groß“. Die Alpträume kamen gleich nach dem Lichtlöschen, und dann, als ich das Licht nicht mehr löschte, kamen sie beim Augenschließen. Ich blieb schlaflos liegen, auch die folgenden Nächte. Im Religionsunterricht hielt man uns an, das mit den Zungen und dem Heiligen Geist zu glauben, denn sie und der Heilige Geist meinten es ja nur gut und die Erzählung sei im übertragenen Sinn zu verstehen.

Meine Taufe fand in der katholischen Kirche von Lenzburg im Schweizer Kanton Aargau statt. Meine Mutter ist katholisch, mein Vater war reformiert. Alle Bedeutungen der sich vor nicht allzu vielen Jahren noch extremer und auch feindlicher gegenüberstehenden Gottesdienste und Feiern, die zur Initiation oder Vereinigung im Namen Gottes stattfanden, haben sich für mich in meinen Eltern aufgehoben. Sie stritten nicht darüber, welcher Ritus der richtige war. Manchmal lachte mein Vater über die Katholiken. Aber die beiden Seiten existierten eigentlich nicht.
Ich war vor der ersten Kommunion bei einer Katechetin, die zu uns katholischen Kindern ins Klassenzimmer kam, und später, als es dann um die Kirchenreife ging im Religionsunterricht beim Vikar. Er kam mit einer Gitarre und wir sangen Kumbaya My Lord und We Shall Overcome. Das war gut so. Beichten mussten wir trotzdem. Ich sagte, dass ich viel Streit hätte mit meiner Mutter und auch meinen Schwestern. Das war nicht erfunden. Bete, bevor es wieder passiert und sonst nachher. Danke. Adieu.
Draußen waren die schultergepolsterten, dauergewellten 80er Jahre bis 1989 der Eiserne Vorhang fiel. Die Geschichte wurde als zu Ende erklärt und Optimismus brach aus. Doch bald gab es wieder Gewinner und Verlierer und auch ich hatte zu tun und wollte mir nicht sagen lassen, dass die Bibel im übertragenen Sinn zu lesen sei und wie ich im übertragenen Sinn zu glauben und es gut zu meinen hatte. Ich wollte meine Erfahrungen längst selber machen und werden wer ich bin.

 

Das war eine kurze Einführung und nun komme ich zu ein paar Ausführungen, meine Arbeit über jenen Ablasshändler rechtfertigend:

Das mit der Verantwortung.

In der Zwischenzeit ist viel Zeit verstrichen und man weiß es jetzt auch im Vatikan: Der Mensch ist zu einem geologischen Faktor geworden. Anthropozän nennen Überzeugte die Zeit, in der wir leben. Anthropozän ist das Zeitalter, in dem der Mensch die Erde verändert. Nichts mehr wird in Gottes Hand gelegt.
Übernimmt der Mensch auch die Verantwortung dafür, die man sonst Gott zugewiesen hatte?
Ich meine – man kann mich gerne korrigieren – es müsse nun endlich darum gehen, dass der Mensch die Verantwortung für sein Handeln übernimmt und ich wünsche mir – man kann mich jetzt gerne auslachen – dass jenes Bewusstsein tatsächlich einsetzt. In einem einzigen Leben kann jeder und jede sich stets entscheiden, ob er die Verantwortung für sein Handeln übernimmt oder ob es ihm egal ist, was nach ihm passiert.
Übernehme ich die Verantwortung?
Du musst es selber wissen, sagte mein Vater oft und damit meinte er es gut, wenn ich das auch nicht immer so sehen konnte und er es vielleicht auch ohne gutmeinende Absicht gesagt hatte. Er lehrte mich damit, für mich Verantwortung zu übernehmen.

Das mit der Gnade.

In den neuen Diktaturen lassen sich Mächtige „demokratisch“ wählen. Danach schwimmen sie in ihren mehr oder weniger großen Teichen und richten an, was Mächtige anrichten, bejubelt von einer Mehrheit, die die Verantwortung in Form von bekannten und auch von unbekannten Konsequenzen tragen wird. Auch Konzerne richten sich in solchen interessanten Situationen ein, gerne weit weg von Recht und Unrecht. In den alten Demokratien hat man dafür Kompensationssteuern eingeführt. Manche Journalist*innen nennen diese Steuern Ablässe.

Der Ablasshandel.

Was das tatsächlich bedeutet, ist auszuhandeln. Hier wird gebraucht, hier bezahlt und da wird ein Teil des Erlöses wieder investiert. Es ist eine Mischrechnung und eine Umverteilung von Verantwortung, die ich nicht mit einem Ablass gleichsetzen würde, denn es geht nicht um eine direkt kaufbare Gnade bzw. Begnadigung. Es geht um Vernunft. Als Mensch darf man heute (vielleicht) hoffen, dass Steuergeld in erneuerbare Energien, nachhaltige Planungen und auch in eine vernünftige Landwirtschaft fließen wird. Ein Ablass ist das, was nicht mit dem eigenen Leib und Geist als Strafe für eine begangene (oder zu begehende) Sünde zu bezahlen sein wird. Ich würde den Ablasshandel also in aller Ruhe da lassen wo er einst war, in der katholischen Kirche. Heute sind wir philosophisch (immerhin) ein Stück weiter und müssen uns – doch einen Schritt zurücktretend – fragen: Können wir mit unserem Handeln überhaupt alle Konsequenzen voraussehen, für die wir verantwortlich sein werden? Wir können es versuchen. Der Rest ist Gnade. Gnade der Natur, der Betroffenen. 

Zu meiner Arbeit.

Letztes Jahr habe ich mich in die Haut eines vom Papst gesandten Ablasshändlers versetzt. Er hatte vorgedruckte Briefe bei sich, mit welchen sich die Menschen von den meisten Strafen, die die Kirche verhandlungslos über sie erließ, freikaufen konnten. Im Februar 1519 hatte er an die Türen des Staufberger Kirchleins geklopft, um dort die Verkündung zu predigen und anschließend die Gläubigen sich von ihren Bussen freikaufen zu lassen. Vorher würde er die Beichte abnehmen. Klar. Er verkaufte den – auch „Beichtbrief für die Zukunft“ genannten – Straferlass oft summarisch an ganze Landstriche und Gemeinden, aber auch an Nachkommen, die die Schuld der Vorfahren nicht mehr tragen wollten. Der Mann hieß Bernardino Sansoni, war (vielleicht) aus Berufung Franziskanermönch und von Beruf Ablassprediger. Zu seiner Zeit war er einer der erfolgreichen Verkäufer im Auftrag des Heiligen Stuhls in Rom. Das hatte auch damit zu tun, dass er bei den damaligen Helvetiern, man denke nun vor allem an die Innerschweizer Kantone, viel Geld einziehen konnte.
Sansone bedeutet auf Deutsch Samson. Es kann sein, dass der Mönch diesen Namen als Übername bekommen hat, es kann auch sein, dass es ihm gelegen kam, so zu heißen und dass er sich gerne mit der Legende des beinahe unschlagbar starken Samson gebrüstet hatte. Vielleicht hatten ihn die Feuerzungen nie erreicht, denn dann wäre er ja schwach geworden. Das Haar war die Schwäche des starken Samson der Legende. Doch bei einem Franziskanermönch muss man davon ausgehen, dass ein Haarkranz friedlich sein Haupt umwuchs und er sich mit seinem päpstlichen Mandat in der Manteltasche stark genug gefühlt hatte.

Der alte und der neue Glaube.

Im Namen Gottes richtig zu handeln, oder zu verkünden, dass man richtig handle und auch noch sagt, dass man es gut meine, das ist eine Anmaßung – nicht nur unserer Zeit.
Der Spaltpilz, der die Katholischen in der Zeit in Reformierte und Katholische teilte, war vor allem die Heuchelei des Handels mit vorgedruckten Ablassbriefen im späten Mittelalter. Man konnte sich von jeglicher Konsequenz, also damals der Strafe Gottes (bzw. der Kirche) freikaufen. Nicht von der Schuld – dafür war nach wie vor die Beichte bzw. der Beichtvater der Kirche zuständig – aber von der Strafe konnte man sich befreien und die Kirche bezeichnete diese Befreiung als Gnadenakt.
Gnade war nach Auffassung von Martin Luther und auch von anderen Reformatoren aber eine in intimster Zwiesprache mit Gott erfahrene Vergebung. Nichts, das man kaufen konnte.

Das Geld aus dem Ablasshandel diente einerseits den kirchlichen Prachtbauten in Rom, die seit 1506 von der Schweizer Garde* bewacht werden. Andererseits diente es der Abwehr der Islamisierung Europas**. Man hatte also durch die wegfallende Eigenverantwortung zum Reichtum des Kirchenstaates sowie zum Erwerb von Kriegsmaterial und vielleicht auch von Kämpfern im Namen Gottes beigetragen.

Der Ablasshandel war für alle Zukunft gemeint. Man konnte sich von jeglicher Konsequenz nach einem Verfehlen loskaufen, das nicht rechtens sein wird. So trägt man niemals die Verantwortung, sondern legt diese und das Geld dafür in die Hand der Kirche. Das ist eine selbstgewählte Entmündigung, die wir heute intellektuell so nennen können. Damals aber erschien jener Handel den Reformatoren als falsch und als Betrug gegen die Gläubigen.
Die Reformatoren der Kirchen Mitteleuropas hatten das mit der Verantwortung wohl noch nicht so gemeint wie ich, aber doch vielleicht schon im Sinne einer Verantwortung für das Überdenken des eigenen Handelns in der Zwiesprache mit Gott. Sie trauten den Menschen also vielleicht etwas mehr Reflektion und Einkehr zu. Mehr als die Katholiken.

Schlaflos brennen die Wörter.

Das Buch, das in diesen Tagen unter dem Titel „Schlaflos brennen die Wörter“ erscheint, enthält Beiträge von 14 verschiedenen Autorinnen und Autoren aus der Schweiz. Auch ich wurde angefragt und ich bedanke mich an dieser Stelle noch einmal beim Herausgeber, Frank Worbs, für die lehrreiche Aufgabe.
Ich wählte jenen Samson, den Ablasshändler, als mein Thema.
Dass man sich von Verantwortung freikaufen kann, scheint mir nach wie vor ein aktuelles Thema zu sein, also ist es vielleicht auch ein allgemein-menschliches Thema. Dass sich so ein Händler auch noch Samson nennt oder nennen ließ, erschien mir auch höchst dubios und schon deshalb interessant.
Dank des Historikers Markus Widmer-Dean bekam ich Zugang zu Berichten von damals, zu Kopien von Ablassbriefen und zu geschichtlichen Lexika. Mehr als 60 solcher Dokumente sowie einige mir zugängliche Schriften über Religion, die Zeit damals und Mittelaltergeschichte hatte ich gelesen, bevor ich mich ermächtigte, die Stimme eines Mannes zu sprechen, den ich selbst nicht respektiere.
Mit dem fiktiven Plädoyer, das Samson an den Pfarrer der Kirche auf dem Staufberg Johannes Fry*** richtete, wollte ich ergründen, wie sich jemand rechtfertigt für was er tut, wie er argumentiert, wie er um Eintritt über eine Schwelle bittet, den jener Pfarrer bereits als Übergriff deutete.
Samson war eine Machtperson im Auftrag des Allmächtigen Vaters und des Heiligen Geistes. Er fühlte sich zweifellos im Recht. Er handelte im Auftrag des Papstes und fühlte sich ebenfalls ermächtigt durch die vielen Gläubigen, die bereits bei ihm gekauft haben. Die vielen kaufenden Gläubigen könnte man in unseren Tagen im übertragenen Sinn als Zielgruppe und Markt betrachten. Der Markt entscheidet, wird gerne als obersterstes Lenkungsargument geführt. Und so wird der Markt zur Masse und das bedeutet, abgekürzt heutig vereinfacht besehen, dass sie im Recht sei.
Das glaube ich nicht und ich bin nicht die Einzige.
Ob es eine Reformation von diesem (alten) Glauben geben wird?
Vielleicht ist sie schon im Gang und wir bemerken es nicht.

Fußnoten.

Samson zog unverrichteter Dinge vom Staufberg bei Lenzburg nach Baden, wo er jeden Tag nach der Messe auf dem Kirchhof Ablässe verkaufte. Die Gläubigen kamen, doch er wurde auch verspottet. Ein Mann stieg auf das Dach der Kirche, von wo er einen Sack mit Federn ausschüttete und auf den Ablassprediger schneien ließ. Dabei rief er jenen zitierend: Ecce Volant! Ecce Volant! Seht, wie sie zum Himmel steigen! Gemeint waren die Seelen der Verstorbenen, die nach dem Kauf eines Ablassbriefes durch ihre Nachfahren aus dem Fegefeuer in den Himmel stiegen. Auch in Baden blieb Samson deshalb nicht sehr lange. Er zog nach Bremgarten, wo ihn Bullinger schon erwartete und gleich wieder fortschickte. Er gelangte nach Zürich, wo ihn Zwingli abwies. Die Tagsatzung verbot ihm schliesslich den Ablasshandel. Mit einer Bulle vom 1. Mai 1519 rief ihn Papst Leo X. zurück in die Heimat. Man berichtete, er sei über Graubünden wieder nach Italien gereist. Vielleicht war er noch in St. Moritz. Das Bündner Luxusdorf wirbt für die St. Mauritius Sauerquellen heute noch mit jenem Papst Leo X.

Ich selbst bin etwa mit Fünfundzwanzig auf schriftlichem Weg aus der katholischen Kirche ausgetreten. Der Pfarrer schrieb, er hoffe, dass es nicht an ihm liege. Es lag nicht an ihm, ich hatte nur nie an die Institution geglaubt. Heute kann ich über meine Erfahrungen mit der Kirche in der deutschsprachigen Schweiz und in Mittelitalien sagen, dass mich ihre Art und Weise, die Dinge scheinbar ewig zu wiederholen manchmal sogar inspiriert, mich mit Werten und Moral auseinanderzusetzen. Was mich aber an ihr zweifeln lässt, ist nach wie vor einiger Geistlicher Aneignung anderer, oft sehr junger Menschen zum egoistischen Spass. Und dass sie frei sind und nicht zur Verantwortung gezogen werden.

*
Helvetische Legionäre waren auch anders im Einsatz, doch das ist eine andere Geschichte. Dass Samson in der Innerschweiz offenbar guten Umsatz gemacht hat, lässt mich allerdings an einen Zusammenhang mit den Taten der Legionäre denken. Viele Innerschweizer dienten in den Heeren der europäischen Könige. 
**
1453 wurde Konstantinopel erobert, 1529 belagerten die Osmanen Wien.
***
Johannes Fry war Pfarrer und Universalgelehrter. Die Kirche Staufen war auch für die Stadt Lenzburg zuständig.

Das Buch:
Schlaflos brennen die Wörter
Herausgeber: Frank Worbs
Reformierte Landeskirche Aargau

Das Buch erscheint im Theologischen Verlag in Zürich.
Die Vernissage fand am Mittwoch, 25. April 2018 im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg statt.

Zum Bild: Ex Chiesa di San Francesco Fano, Italien.

Bild: Sibylle Ciarloni, ca. 2009

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