Wütende junge Frauen

Der Bericht von Anja Streichan ist nach der Veranstaltung "Angry Young Women" im Theater Die Säule erschienen.
Lesungen u.a. von Jutta Seifert, Karen Duve, Sibylle Ciarloni, J. Monika Walther, Milena Noemi Kowalski, Alexandra Horst.
Rheinische Post / Duisburger Kultur am 2.9.2008
Bild: Andreas Probst

Erboste Frauen in der Säule PDF

 

Bild: Sibylle Ciarloni, 2022


Einmal in Berlin

Es ist nach wie vor nicht klar, ob nur ich es war, die sich all das eingebildet hatte...

Herbert hält mir wortlos die Tür auf. Ich lächle. Er kippt seinen Kopf in den Nacken. Ich ziehe meinen Rollkoffer über die Schwelle, während er durch den dunklen Korridor zum Fahrstuhl eilt und auf den rot leuchtenden Knopf drückt. Schon schieben sich die Metallflügel auseinander. Ich bleibe vor dem hellen Fahrstuhlraum stehen. Er öffnet seine linke Hand und schiebt mich mit seinem rechten Arm schon mal angedeutet in den Fahrstuhl. Ich verstehe und schiebe mich dann selber durch die schon schließenden Türflügel. Dratsch. Noch einmal gehen sie auf. Wir sind drin. Ich bin mit Herbert allein.

Während wir gleichzeitig zu den Tasten langen, kann ich seinen Duft riechen. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, dass einer meiner Italienischlehrer den gleichen getragen hatte. Er bestellt sich in den vierten, ich mich in den ersten Stock. Kouros. Duft verwegener Schöngeister. Zwei Welten. Herbert. Fernando.

Ich steige aus. Er kippt seinen Kopf erneut nach hinten und gibt einen kehligen Laut von sich. Wir waren nicht mal eine Minute zusammen und ich bekomme von ihm einen Ton, die eindeutige Schiebebewegung und ein Lächeln, das ich zwar nur im Spiegel sehe - aber immerhin. Das war ganz neu. Während ich meinen Rollkoffer aus dem Fahrstuhl rolle, die Türflügel sich hinter mir zuschieben und er aus meinem Blickfeld verschwindet, bin ich glücklich. Auch während ich dann lausche, wie er oben in seinem Penthouse die Tür aufschließt und eintritt. Herbert hatte kein Gepäck bei sich. Sicher war er schon vor mir angekommen und hatte noch geduscht, war dann vielleicht hungrig runter zum Vietnamesen geeilt, der mit den bleichen Teigtaschen, den blauen Teekrügen und diesem Bestellsystem, wo man beim Bestellen am Tresen seinen Namen nennen musste. Er hatte sich vielleicht drei Teigtaschen bestellt und einen Jasmintee. Es dauert nicht lange, sagt die junge Frau hinter dem Tresen leise. Eine Minute. Sie hatte mit dem Zeigefinger, dem kleinen Finger oder auch dem Daumen, nach oben gezeigt, um die Minute in ein Zeichen zu übersetzen. Herbert hatte dann wahrscheinlich genickt oder seinen Kopf in den Nacken geworfen. Dann hatte er an einem Tisch gewartet und als sein Name ausgerufen wurde, stand er auf und holte die bleichen Teigtaschen. Beim Essen hätte er, wie möglicherweise vorher, während des Wartens, in einer Kunstzeitschrift geblättert, damit die Leute ihn nicht gleich nicht erkannten.

Im vierten Stock schließt er jetzt die Penthouse-Türe. Er dreht die Schlüssel, einmal, zweimal, und ich höre nichts mehr von ihm. Er ist älter geworden. Berühmter. Niemand würde ihn ansprechen. Ich würde ja schon. Doch ich bin nicht so oft in der Stadt und wenn ich da bin, kann ich doch nicht die ganze Zeit auf der Treppe sitzen und warten, bis er vorbeikommt und ich ihn ansprechen kann.

Am nächsten Tag kommt er mir auf der Strasse entgegen. Er trägt eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern, hebt seine Hand zu einem Gruss. Er hebt sie nur leicht an. Dann wirft er wieder seinen Kopf in den Nacken und gibt mir den zweiten kehligen Laut. Er hatte mich erkannt!

Am Abend sitzt er eine Reihe vor mir im Theater. Die drei Schauspielerinnen sprechen bereits. Ich kann mich kaum konzentrieren. In Gedanken spiele ich durch, wie ich mich leicht seitlich links vorbeuge und ihm auf die Schulter zu tippen. Ich könnte ihm auch die Hand sanft auf seine Schulter legen oder ihn in den Oberarm boxen. Einmal habe ich mich einem alten Freund so in Erinnerung gerufen. Einem, den ich schon richtig lange nicht mehr gesehen hatte und der dann eines Tages in einer belebten Bahnhofshalle zufällig wenige Meter neben mir vorbeiging. Ich hatte mich rasch genähert und ihn so seitlich in den Arm geboxt, ich sagte „Hey!“ und boxte ihn. Ruckartig drehte er sich zu mir, die Augen misstrauisch zusammengekniffen und eine Hand bereits am Pistolenlauf. Natürlich glättete sich die steile Falte zwischen den Brauen als er mich erkannte. Er war Polizist geworden, an dem Tag in Zivil am Observieren.

Der Applaus weckte mich. Ich erschrak. Herbert war weg. Hatte ihn das Stück gelangweilt oder musste er aufs Klo? Ich sah mich um und konnte ihn nicht finden. Die Leute hörten nicht auf zu klatschen. Ich klatschte mit, denn es war schon schlimm genug, dass ich eingeschlafen war. Die Schauspielerinnen freuten sich über den Applaus und hörten nicht auf, sich zu verbeugen und hinter und unter dem Vorhang durchzurennen, sich wieder zu zeigen und als der Applaus schon fast abgeklungen war, da kamen sie noch einmal. Auf dem Nachhauseweg dachte ich, dass ja Herbert vielleicht noch irgendwo ein Bier trinkt und schaute unauffällig in die Kneipen am Weg.

Am nächsten Tag schneite es noch immer nicht wie eigentlich seit Tagen angekündigt. Am Nachmittag hörte ich Schritte im Treppenhaus. Vielleicht ist das Herbert, dachte ich. Doch ungekämmt, im Pyjama, ohne einen Tropfen Make-up und mindestens Mascara an den Wimpern, konnte ich niemals vor die Wohnungstür treten und beispielsweise so tun, als ob ich auf dem Gang meine Schuhe suchen würde.
Am Abend ging ich zum Vietnamesen mit den schönen Teigtaschen. Es roch nach Zitronengras und Ferne. Die Fenster waren beschlagen. Die Dunkelheit blieb draussen. Nahe der Theke sass Herbert. Er befand sich tatsächlich am selben Ort wie ich, ohne dass ich etwas organisiert oder gar inszeniert hatte. Ich war glücklich. Als er mich bemerkte, kippte er kurz den Kopf nach hinten und aus seiner Kehle kam das bekannte Geräusch an mich. Er blätterte in einer Kunstzeitschrift. Ich setzte mich neben ihn und bereute es sogleich, denn ich wusste nicht genau, was ich jetzt sagen sollte. Ich konnte ihn in den Oberarm boxen und Hey sagen. Ich konnte ihm endlich sagen, wie ich heisse. Und dann würde ich sagen, Du bist doch Herbert und er würde vielleicht denken, was ist das denn für Eine und wann sind meine Teigtaschen endlich fertig, hatte die Tante nicht gesagt, dass es nur eine Minute dauern würde? Vielleicht aber dachte er anders. Vielleicht dachte er, wow, endlich treffe ich die mal so per Zufall wieder, ich hätte sonst mal klingeln müssen bei der, doch das wär ja auch nicht so meins, es muss schon einfach so passieren, sag ich ja immer, und siehe da, da sitzt die jetzt neben mir.

Es war noch keine Minute vergangen.

Herbert lächelte schief.

Hey?

Hey!

Und genau in dem Moment rief eine Stimme von der Theke „Markus“ und Herbert stand auf, aus seiner Kehle kam nichts, doch er warf den Kopf zurück, zwei Schritte bis zur Theke, ein Griff zur Papiertüte, schon war er bei der Tür und weg. Mit meiner Hand wischte ich mir am beschlagenen Glas ein Fenster nach draussen frei.

 

Bild: Sibylle Ciarloni, 2022


Goya, der Maler

Ich kannte ihn kaum, bis ein Mann mir von seinen Bildern erzählte. Er beschrieb Fleisch, nackte Haut, Elend, Lust. Dunkle Schatten auf seiner Stirn, im Sommerwind wehen Gardinen, seine bleichen Augen leuchten und sein Lachen reicht bis zu seinen haarigen Ohren. Goya! Spanien! Revolutionen und Kriege in Europa!
So ging ich hier an der Adria ins Kino und stellte mich in die italienische Reihe hinter der Kasse. Es war halb sieben. Der Film über Goya begann um halb sieben.

Vor mir waberte leicht nervös eine Gruppe von wahrscheinlich miteinander bekannten Menschen. Die Damen mit Lippenstift und lauten Parfums. Die Männer eher unscheinbar, insgesamt sportlich und gekämmt. Ein bisschen Eau Sauvage meinetwegen. Gleich hinter mich stellte sich ein kleiner Mann. Neben ihm, etwas zurückversetzt, stand wahrscheinlich seine Frau. Es ist halb sieben, rief er. Der Mann klebte sich seitlich an mich. Er will überholen, dachte ich. Das wollen alle Italiener. Seine Frau klebte in der Zwischenzeit rechts an mir. Ich schaute seitlich in zwei unbeteiligte Gesichter. Wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll und wenn Schweigen auch keine Alternative ist, dann denke ich mir kleine, fiese Manöver aus. Zuerst warf ich meine Tasche über meine Schulter via sein Gesicht und der Frau schob ich meinen Absatz ruckartig an die Spitze ihres Winterschuhs.
Im schließlich vollen Saal schwatzten die Damen nicht nur während der Pubblicità und der Vorfilme. Auch als es schließlich dunkel war und während des Films redeten sie. Mir schien, als würden wir alle in einem grossen Wohnzimmer lästernd nebeneinander auf einem Sofa sitzen. Zwei Frauen hinter mir unterhielten sich über die Schönheit der in der Dokumentation sprechenden Kuratorinnen. Fa paura questa da quant’è brutta! (Die flößt einem ja Angst ein, so hässlich ist sie!)
Ich versuchte, weder Entrüstungen noch Körpergeräusche zu beachten. Ich konzentrierte mich auf das erwartete Fleisch auf der Leinwand. Doch nur die anständigen Auftragsarbeiten für die damaligen Könige waren Thema. Der Dokumentarfilm dauerte etwas mehr als eine Stunde. Mindestens fünf verschiedene Mobiltelefone klingelten in der Zeit. Zwei der Angerufenen sagten leise aspetta. eh. aspetta und bedeuteten den Sitzenden, die Knie seitlich zu legen, um nach draussen zu gelangen. Dann kamen sie wieder und sagten leise: scusate. eh. scusate. Und die Knie der Reihe legte sich auf die andere Seite. Die anderen redeten einfach, ohne scusate.
Ich lachte, um nicht zu weinen. Und Goya starb endlich in meinen Armen!

Bild: Jeewi Lee, Encounter (Future Past Tense), 2023, Galvanisierte Sepia Schulpe/Galvanized Cuttlefish Bones, fotografiert von Sibylle Ciarloni, Gropius Bau, Berlin, 2023


Ein Tag im Leben

Heute ist der internationale Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. In der Zeitung steht: Griechenland soll aus dem Schengenraum ausgeschlossen werden, weil das Land die europäischen Grenzen absichtlich nicht genügend sichere.

Als ich einmal in Portopalo di Capo Passero auf Sizilien war, sagte mir ein Mann, er habe seinen Beruf an den Nagel gehängt. Zu viele Tote. Zu viele falsche Gesetze. Damals galt in Italien vorübergehend ein Gesetz, dass Schiffbrüchige nicht gerettet werden dürfen. Der Mann war Fischer.

Als Blocher noch im Bundesrat war, habe ich ihm aus einem damals aktuellen Anlass einen Brief geschrieben. Ich bat ihn, seine schwarzenbachschen Forderungen menschlich und umsichtig zu bestimmen und nicht nach den schmalen Einheiten, die den Anhängern seiner Schweizerischen Volkspartei gefallen. Er habe den Brief zur Kenntnis genommen. Schrieb sein Sekretariat.

Als die Initiative gegen die Masseneinwanderung angenommen wurde, zweifelte ich an der Bildung der Stimmberechtigten. Doch alles Nachdenken und Diskutieren half nicht.

Also gut.

Nachdem ich mindestens schon dreimal mit Als angefangen habe, um an Grenzposten und im Schweigen zu enden, will ich bei einer Geschichte bleiben, bzw. sie anfangen und zu Ende erzählen ohne allzu viele Verbindungsfäden zu legen und Zusammenhänge zu sehen. Vielleicht gelingt es mir, von einem Tag in meinem Leben zu erzählen:

Heute tat ich nur das, was ich tun wollte. Ich schrieb zunächst an einem neuen Text und habe später meinen biometrischen Pass auf dem Konsulat abgeholt, eine Freundin getroffen, per Zufall einem mittelalterlichen Treiben in Basel zugeschaut und mich gewundert über die Begeisterung und die Herren mit den Ehrenzeichen an der Brust. Es war fast wie mit dem Steppenwolf durch die Gassen zu ziehen. Nur war da noch Tag. Am Abend kochte ich. Dann kam am Radio die Nachricht, dass Human Rights Watch den World Report 2016 veröffentlicht hat. Ich google 338 Seiten zum Download.

Ich lese von den vielen rassistisch motivierten Verfolgungen. Es werden Vorkommnisse in zehn Staaten beschrieben. Viele haben auch mit den Grenzziehungen gegen Menschen auf der Flucht zu tun. Werden Menschen auf der Flucht selbstgerechten Hetzerinnen und Hetzern überlassen, dann hat die Europäische Union wenig mit den Vorstellungen von einer Region zu tun, die sich gerne mit Menschenrechten und Wohlstand schmückt.
Menschen werden kommen und Menschen werden gehen. Wir können sie empfangen und uns für die Zeit, die sie mit uns verbringen, miteinander arrangieren. Manche werden sich für uns interessieren und ihr Leben in unserer Nähe aufbauen. Andere werden zurückreisen. Was ist daran so gefährlich? Warum kann man nicht wollen, dass jemand aus einem Kriegsgebiet oder aus einer armen Region ein neues Leben gestalten will? Ich lebe in dieser Region, die sich Europa nennt, ich schreibe, denke nach, lese Bücher, reise manchmal über die Grenze nach Süden, manchmal nach Norden, freue mich über Begegnungen und über jedes Mal, wenn ich etwas lernen kann. Ich bin nicht auf der Flucht und kann nicht wirklich viel wissen davon. Allerdings glaube ich noch immer, dass Frieden ist ein Grundbedürfnis ist.

Heute ist der internationale Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Ich hoffte, "sowas" sollte sich in keiner Weise wiederholen, aber alles Ausschließen hat immer schon irgendwo angefangen. In einer Straße, an einer Grenze, in Menschenköpfen.
Jetzt die Nachrichten. Jede Stunde einmal auf dem staatlichen Sender. Die kurze Meldung aus der Zeitung von heute Morgen wird wieder gegeben. Griechenland soll aus dem Schengenraum ausgeschlossen werden, weil das Land die europäischen Grenzen absichtlich nicht genügend sichert.
Absichtlich. Unvorstellbar.
Noch weniger kann ich mir vorstellen, dass Regierungen und laute Politikerinnen und Politiker sich ernsthaft auf Grenzschliessungen konzentrieren können, wenn Menschen in Not sind.
Gut vorstellen kann ich mir allerdings, dass man nicht mehr als Fischer im Mittelmeer Fische fischen will, wenn tote Menschen in den Netzen hängen.

 

Bild: Sibylle Ciarloni, 2023