Gelesen 2020/2021 im Haus zur Glocke in Steckborn TG Schweiz im Rahmen von „Die Dinge des Alltags und die Kunst“, im Neuen Salon der Brotfabrik Berlin, im Atelier der Künstlerin Bettina Diel in Zürich und im Rahmen der Co-Leitung des Workshops „Nature Writing“ am Hyperwerk in Basel – vor Ort und online.
Projektbeschrieb / Saaltext (überarbeitet 01.2022)
Ausgangslage
Zimmerpflanzen wirken positiv auf psychosomatischer Ebene. Zugleich sind sie ein romantischer Gedanke. Sie sind da, um schön zu sein, den Raum zu begrünen und um so die Sehnsucht nach Natur zu nähren und bei vielen Menschen wohl auch zu stillen.
Zu den Hintergründen von «Monolog einer Zimmerpflanze»
Aspekte
1. Gegenwart
Dank der Forschung über das Verhalten von Pflanzen, besonders deren Eingehen von Symbiosen mit Andersartigen und deren Fähigkeit zum Teilen von Ressourcen, kann die Wirkweise aller Lebewesen aufeinander derzeit neu gedacht werden. Gegenwärtig beschriebenen, gelebten und (angenommen) kulturell gewachsenen Daseinsformen, die noch auf die Vergleiche mit Jagen und Sammeln bauen, stellen sich die Beobachtungen aus der Pflanzenwelt friedvoll gegenüber.
2. Multiplikation
Wunder und Paradox zu gleichen Teilen zeigen sich in deren Kapazität, aus dem Fast-Nichts heraus zu leben; aus jenem noch nicht lebenden Samen (Potential) heraus sich zu entwickeln und zu multiplizieren. Pflanzen zeigen, wie sie als Lebewesen sich selbst und ihre Körper wie auch die ungezählter Anderer beleben und nähren können.
3. Versprechen
Jene Zwiebeln, die in den Niederlanden zuerst an einer sogenannten Börse gehandelt wurden, waren schöne Versprechen. An sie zu glauben war eine der Spielregeln mit welchen die organisierten Spekulationen 1637 angefangen haben. Jene virtuellen, künstlich erzeugten, lockenden Inhalte sind Prophezeiungen. Nicht mehr und nicht weniger.
4. Macht
Firmen, die Hybridtechnologie betreiben und 1x fruchtbare Samen herstellen, werben mit ‚hohem genetischem Ertragspotential‘ und ‚überlegener Vitalität‘. Auch mit ‚Ertragsstabilität unter allen Bedingungen‘. Was das alles z.B. für die Böden bedeutet, kann die Risikoforschung nicht abschätzen. Und für die Menschen?
5. Wachstum
Vor einigen Jahren im Tram. Hinter mir fragte ein älterer Mann einen jüngeren Mann nach dessen Beruf. Der sagte, ich studiere noch. Aha, sagte der ältere, welche Richtung? Der jüngere sagte: Wirtschaft. Ui, sagte der Ältere und versuchte, ihn zu fragen, wie er es halte mit dem Wachstum, das die Wirtschaft immer vorzeigen wolle, das sei doch vielleicht nicht der richtige Weg, wenn es nach wie vor so viel Krieg gibt und Menschen unter Hunger leiden. Hunger war dann das Keyword für den jüngeren Mann: Genau, deswegen! Wir müssen viel mehr produzieren, um allen Menschen in der Welt Wachstum zu ermöglichen! Wachstum ist Wohlstand!
Dann stieg er aus.
6. Mutanten
Eine Konklusion. Die Samen, die heute verkauft werden, enthalten programmiertes, manipuliertes, mutiertes Leben, ausgelegt auf 1x blühen und 1x geben. Niemand kann sich mehr eine eigene, marktfreie Samenbank anlegen und auf die nächste Pflanzzeit warten. Und kaum eine Pflanze kann mehr, sei sie noch so ‚überlegen vital‘ und ‚mit hohem potentiellem Ertrag‘, ihr eigentliches Dasein leben.
Schade eigentlich?
Schade eigentlich.
Nach der Auseinandersetzung mit dem Thema der Mutationen bei Lebewesen, dem Anschauen aller bisher entstandenen Blade Runner Filme und der freischwimmend oberflächlichen Annäherung an die philosophische Fragestellung mit eigenständig eingefügten Worten in Klammern „Wann ist ein Mensch (noch) (doch) (wieder) ein Mensch?“ entstand in der Zeit während des Lockdowns in Italien zwischen März und Mai 2020 der Entwurf zu diesem «Monolog einer Zimmerpflanze»: Ein im letzten Jahrhundert konstruiertes Bio-Experiment (Zimmerpflanze) spricht. Es hat sich weitgehend verselbständigt, da es nach seiner Installation in einem Bürogebäude vom Labor vergessen worden war.
Gewidmet Rutger Hauer und Linn Da Quebrada.