Essay
Überlegungen zu Evolution, Hingabe, Zuhören, Anpassungen und neuen Wesen.
Letztes Jahr im Herbst dachte ich, ich müsste nichts mehr schreiben und was ich sagen kann, hätte ich schon gesagt. Zugegeben, das wäre dann noch nicht viel. Aber die notierten Reflektionen schleichen sich aus meinem Fundus, den ich nach und nach unordentlich in meinem Gedächtnisschrank und in mehreren komplexen Ablagesystemen oder digital ergänze. Und auch zugegeben, ich bin eigentlich bloß schreibfaul geworden im letzten heißen Sommer, an den ich mich und meine Vorhaben allesamt hingegeben hatte. Einzig in der Obhut lauschiger Schattenstellen und in der Nacht entstanden Zusammenhänge, konnte man einander zuhören, etwas denken, lesen vielleicht, schreiben. Tagsüber war nur ein Minimum an Arbeit möglich.
Als ich vor mehr als zehn Jahren «Die Geschichte vom Ohr» schrieb, da war ich mir eines gewöhnlichen Morgens sicher, dass die Fähigkeit zuzuhören, sich nach anderen Existenzmöglichkeiten umschaut und die beiden überflüssigen Organe am Menschenkopf sich früher oder später von selbst abbauten und in Einzelteile auflösten. Viele lachten über die Vorstellung, dass die von der Haut getrennten Ohrknorpel sich auf der Mülldeponie paarten und daraus neue Wesen entstanden.
Es war ja bloß eine kleine Evolutionshochrechnung, aber ich fand sie ganz passend und meine nach wie vor, dass viel mehr geredet als zugehört wird und dass man in der Erwachsenenbildung Kurse im Zuhören einführen sollte. Jetzt, wo das Insichkehren, vor allem aber zunächst das Zuhausebleiben, Pflicht wird, jetzt wird vielleicht ein Bedürfnis dafür geweckt.
Vor ein paar Monaten war das Covid-Pandemie-Virus erst in China und zunächst wusste wohl niemand in Europa, Afrika, den beiden Amerikas und vielen anderen Regionen dieser Welt davon. Anfangs Dezember saß ich im Zug nach Wien. Es lag Schnee in den Bergen hinter Bozen. Ich las vom Virus und im Artikel eine Spalte weiter, las ich dann lieber über diesen Forscher, der die Hirnströme in Zeiten digitaler Informationslawinen und permanenter freiwilliger Aufmerksamkeitshingabe an Bildschirme wie denjenigen der smartphones, laptops und Co. misst und in der Zwischenzeit festgestellt hat, dass die Aufmerksamkeitsspanne des Menschen um ein Vieles abgenommen hat, sich das Hirn bereits den neuen Gewohnheiten anpasst und diese Anpassung sich in die Erbinformation des Menschen schreibt. Ich rechne also hoch und denke: So brauchen wir keinen individuellen Weg mehr, auf dem wir uns hin und wieder für unser Selbstbezogensein entschuldigen. Wir essen, was man uns gibt. Wir säen Samen-Hybriden, aus denen unfruchtbare Einwegpflanzen wachsen. Wir folgen dem Algorithmus, der uns individuell auf uns zugeschnittene Produkte vorschlägt. Wir glauben ihm und wählen frei. Wir leben in TV-Serien das stereotype Leben von Anderen und lenken uns jederzeit mit einem Spiel auf dem Handy ab, so lange bis wir alles gespielt und alles gelebt haben, was uns persönlich nichts angeht.
Jetzt ist Pandemie mit einem neuen Epizentrum in Europa. Und natürlich will ich glauben, dass das auch eine Chance ist. Vielleicht sollten wir uns jetzt, wo die Beschäftigung schwindet, freiwillig an diese neue Situation anpassen, zuhause bleiben, miteinander telefonieren, zuhören und nicht einfach die Länge einer Pendlerstrecke im Zug einander durchs Handy zuschnaufen und ab und zu fragen: Bist du noch da? Oder doch, vielleicht auch das… aber nicht im Zug bitte und später, nach der Pandemie, bitte auch nicht im Zug… Ja, nach der Pandemie. Ich will glauben, dass die Frage: „Wie wollen wie leben?“ in drei Monaten anders beantwortet wird als noch vor drei Wochen. Wir müssen näher zueinander rücken mit aller derzeit geforderten Distanz. Ich will hoffen, dass Menschen, die es schwer haben in ihren Familien oder in der Gemeinschaft, in der sie leben, die Auszeit zur Klärung von Konflikten nutzen. Ich denke auch an jene, die alleine leben und das nicht wollen. Ich hoffe für alle, dass die geforderte Nähe mit Distanz, auch zu sich selbst, nicht zum Alptraum wird.
Dobbiamo essere forti!
Hier in Italien gewöhnt man sich langsam an die Vorschriften. Wir müssen, wenn wir uns von Wohnung oder Haus wegbewegen, ein Formular mit uns tragen, mit dem wir deklarieren, wohin wir gehen und warum. Die beigefügte Multiple Choice Liste, was Grund genug ist, ist kurz und scheint spontan von einem Bürolisten entworfen worden zu sein. Von Choice, kann also keine Rede sein… Die verlangten Anpassungen sind groß. Denunzianten und Schlaumeier sind auch schon aktiv. Aber ich träume davon, dass das „Wir“ in den nächsten Wochen eine verbindende und verbindliche, gleichzeitig eine tolerante und großzügige Bedeutung bekommt, die sich ebenfalls in die Erbinformation der Menschen schreibt. Dass die Abkehr von Hamsterrad und Hamsterkauf eintritt. Dass Ellenbogengeschichten bedeutungslos werden. Denn unsere Ellenbogen brauchen wir jetzt für anderes. Die schon erwähnte Forschung über die hirn-verändernde Aufmerksamkeit, die an unsere Geräte geht, beweist, dass die Anpassung des Gehirns in Richtung friedlichere Welt durchaus möglich ist.
Ellenbogen werden im Schweizer Sprachgebrauch an Stellen eingesetzt, wo es darum geht, Konkurrenten loszuwerden, indem man sie wegkickt. Man elleböglet dann, um es im Jargon zu sagen.
Bauen wir nun zunächst keinen Unfall und regen wir uns nicht auf, denn alle Spitalbetten werden gebraucht für die, die erkrankt sind. Keine Gefährdung, kein gestauchter Fuß, kein Sturz von der Bicicletta, kein freies Niesen, keine Umarmungen. Das ist, was man vor allem hören muss in jenem lauten Zählen der Liveticker über die Anzahl der Infizierten, Verstorbenen, Geheilten. Auch dass in Italien ein Ärzteteam aus China eingetroffen ist, das sein Wissen weitergibt. Auch dass in ebendiesem China die Fälle nun massiv zurückgegangen sind, wie in Codogno auch, wo schon seit Ende Februar für den ganzen Ort die Quarantäne galt.
Bleiben wir zuhause. Es dauert vielleicht drei, vier Tage, dann gewöhnt man sich dran. Widmen wir uns der Philosophie, der Schönheit, den wichtigen Dingen. Schreddern wir was wir nicht mehr brauchen. Heute, morgen. Heute, morgen. Heute, morgen. Geduld. Pazienza. Und wer keine hat: Laufen an Ort geht auch, dann sind der Schrittzähler am Handy und die angedockte Krankenversicherung (in der Schweiz Gesundheitskasse!) auch zufrieden.
… Wie lange es noch dauert, bis Menschen ohne Ohren auf die Welt kommen und die Wesen, die der Paarung von Restknorpeln entspringen, sich dank guter Nahrung auch vergrößern und vielleicht ein Hirn entwickeln, weiß niemand. In «Die Geschichte vom Ohr» prophezeite ich das erneute Anwachsen vom Ohr an den Menschenkopf. Manchmal macht die Evolution eben einen Umweg.