Ein Kind verändert während des Spiels die Spielregeln. Das ist normal bei Kindern.

Ein gelbblonder, für sein Alter schon recht großer Bub spielt im weißen Haus mit Kugelschreibern. Für Tinte hat er keine Zeit und Farbstifte hat er keine mehr. Die hat er im Garten vergraben. Der Bub spielt nur mit Kugelschreibern. Und manchmal mit einem dunkelblonden Mädchen. Es hat ein Gesicht wie ein hübsches Alien. Aber es ist kein Alien und eigentlich will es nicht bei allen Spielen des Buben mitmachen. Es muss nur manchmal. Dann geht es auch barfuß, wenn bei einem Staatsbesuch die schönen Schuhe drücken. Ja, auch wenn das nicht sehr natürlich klingt, dass man als Bub und als Mädchen zusammen auf Staatsbesuch geht. Es ist so. Sie gehen auf Staatsbesuch.
Mit seinen Kugelschreibern unterzeichnet der Bub Papiere auf welchen steht, was er kurz zuvor oder irgendwann in einem anderen Zusammenhang behauptet oder grundsätzlich anders will und womit er mal mehr, mal weniger bewusst im ganzen Land und auch außerhalb des Landes etwas anzettelt. Und es geschieht immer das Gleiche. Es hagelt Proteste und angehobene Daumen.

Der Bub ist mir eher unsympathisch. Sein Treiben kann vier Jahre dauern ODER bis zu einem Unglücksfall ODER es dauert sogar acht Jahre. Aber vielleicht will der Bub auch bleiben. Denn das ist total normal bei Kindern, dass sie die Spielregeln nach ihrer eigenen, unanfechtbaren Logik verändern, auch ganz plötzlich und unerwartet und während des Spiels sogar. Und der Bub wird mit einer seiner bedeutungsschweren Kugelschreibergesten auch diese – seine – neuen Regeln unterzeichnen und dann Daumen hoch und noch eine Amtszeit und noch eine Amtszeit. Werden demokratisch erwirkte Institutionen und in vielen Schritten über Jahrhunderte erarbeitete und verhandelte gemeinsame Werte helfen, ein solches Szenario zu verhindern? Mit dem Wort „demokratisch“ meine ich die Beteiligung an der Gestaltung und den Vereinbarungen das Zusammenlebens von Menschen betreffend. Auf sie können jene sich beziehen, die sich in Protestgesten abwenden. Das Gesicht hinter dem Daumen dieses Buben, das nicht alle so gerne sehen wie er selbst, sehen wir trotz einiger Millionen zu weniger Stimmen, aber dank der Wahlregeln des Landes. Es bzw. er wird das Land verändern.

Veränderungen sind Unsterblichkeitsbemühungen der Evolution. Veränderung ist Leben an und für sich. Verändert sich aber Grundlegendes, muss man sich zuerst daran gewöhnen, falls man an der Veränderung nicht wesentlich beteiligt war. Aber manchmal auch dann. Entweder wir gewöhnen uns also an die Frisur und das immer geschürte Mündchen oder wir gewöhnen uns nicht daran. Ich versuche es mal mit der Frisur, so muss ich das Gesicht mit dem Mündchen nicht anschauen. Immer scheint es entzückt zu sein oder an irgendetwas nippen zu wollen. Ich sehe es überall. Aber eine Pause der Aufmerksamkeit gegenüber der Nachrichtenschwemme, aus welcher dieser Bub täglich mit seinem erhobenen Daumen in unsere Leben springt, kommt für mich derzeit nicht infrage. Das kann sich – ich weiß – ändern. Man muss ja nicht immer nur Nachrichten hören, lesen, schauen. Man kann zum Beispiel beim Großverteiler Punkte sammeln oder sich im Kino das Musical La La Land anschauen. Man kann im aktuellen Zeitgeschehen auch nach Mustern in der Vergangenheit suchen und eventuell Angst bekommen. Das Suchen kann lähmen, da es Abbilder von Vergangenheitserfahrung neu rahmt und also zementiert. Das was war, entspricht nie gleich dem heutigen Geschehen, ist ein Heranziehen von unter anderen Motivationen und in anderen Zusammenhängen geschehenen Dingen. Bleiben wir deshalb bei La La Land. Man kann der unlängst in Spiegel Online veröffentlichten Idee, es gäbe einen musterhaften Zusammenhang zwischen dem Erfolg des tröstenden Musical-Genres und der Zeit des Kalten Krieges, der Kubakrise und der Angst vor der Atombombe, zustimmen oder ihr ein ABER entgegensetzen. Zum Beispiel: Aber wir befinden uns nicht mehr im Kalten Krieg.

Beitragsbild: Sibylle Ciarloni.

Share this post