Ich kannte ihn kaum, bis ein Mann mir von seinen Bildern erzählte. Er beschrieb Fleisch, nackte Haut, Elend, Lust. Dunkle Schatten auf seiner Stirn, im Sommerwind wehen Gardinen, seine bleichen Augen leuchten und sein Lachen reicht bis zu seinen haarigen Ohren. Goya! Spanien! Revolutionen und Kriege in Europa!
So ging ich hier an der Adria ins Kino und stellte mich in die italienische Reihe hinter der Kasse. Es war halb sieben. Der Film über Goya begann um halb sieben.
Vor mir waberte leicht nervös eine Gruppe von wahrscheinlich miteinander bekannten Menschen. Die Damen mit Lippenstift und lauten Parfums. Die Männer eher unscheinbar, insgesamt sportlich und gekämmt. Ein bisschen Eau Sauvage meinetwegen. Gleich hinter mich stellte sich ein kleiner Mann. Neben ihm, etwas zurückversetzt, stand wahrscheinlich seine Frau. Es ist halb sieben, rief er. Der Mann klebte sich seitlich an mich. Er will überholen, dachte ich. Das wollen alle Italiener. Seine Frau klebte in der Zwischenzeit rechts an mir. Ich schaute seitlich in zwei unbeteiligte Gesichter. Wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll und wenn Schweigen auch keine Alternative ist, dann denke ich mir kleine, fiese Manöver aus. Zuerst warf ich meine Tasche über meine Schulter via sein Gesicht und der Frau schob ich meinen Absatz ruckartig an die Spitze ihres Winterschuhs.
Im schließlich vollen Saal schwatzten die Damen nicht nur während der Pubblicità und der Vorfilme. Auch als es schließlich dunkel war und während des Films redeten sie. Mir schien, als würden wir alle in einem grossen Wohnzimmer lästernd nebeneinander auf einem Sofa sitzen. Zwei Frauen hinter mir unterhielten sich über die Schönheit der in der Dokumentation sprechenden Kuratorinnen. Fa paura questa da quant’è brutta! (Die flößt einem ja Angst ein, so hässlich ist sie!)
Ich versuchte, weder Entrüstungen noch Körpergeräusche zu beachten. Ich konzentrierte mich auf das erwartete Fleisch auf der Leinwand. Doch nur die anständigen Auftragsarbeiten für die damaligen Könige waren Thema. Der Dokumentarfilm dauerte etwas mehr als eine Stunde. Mindestens fünf verschiedene Mobiltelefone klingelten in der Zeit. Zwei der Angerufenen sagten leise aspetta. eh. aspetta und bedeuteten den Sitzenden, die Knie seitlich zu legen, um nach draussen zu gelangen. Dann kamen sie wieder und sagten leise: scusate. eh. scusate. Und die Knie der Reihe legte sich auf die andere Seite. Die anderen redeten einfach, ohne scusate.
Ich lachte, um nicht zu weinen. Und Goya starb endlich in meinen Armen!
Bild: Jeewi Lee, Encounter (Future Past Tense), 2023, Galvanisierte Sepia Schulpe/Galvanized Cuttlefish Bones, fotografiert von Sibylle Ciarloni, Gropius Bau, Berlin, 2023