Essay

Ich bin in einem Land geboren worden, in welchem zu der Zeit ein reicher Mann mit seiner Politik für Furore sorgte. Das gesteigerte Interesse galt einmal mehr den Fremden. Deren zu viele gebe es, sagte er. Das war keine neue Rhetorik, der reiche Mann sprach einfach aus – wie er behauptete und nach ihm noch viele mehr behaupten – was die Leute im Land dachten. Der reiche Mann hieß James Schwarzenbach und das Land heißt Schweiz, die Region, wo ich gelebt habe, ist das deutschsprachige Mittelland.

Schwarzenbach lud zu Veranstaltungen ein oder er wurde eingeladen. Letzteres sogar mehr als vorderes. Er sprach zu den Leuten und sie applaudierten. Wir wollen keine Ausländer! Ausländer raus! Das Wir war sich allerdings uneinig. Kulturfremde und Kosmopoliten gerieten aneinander. Wie schon zwischen den Kriegen in den Zwanziger Jahren. Willi Wottreng schreibt diesbezüglich in seinem Buch „Ein einzig Volk von Immigranten“: „Feststellbar ist eine Art nationaler Schizophrenie. Während die Schweizer Behörden immer härtere Maßnahmen gegen Ausländer erfanden, machte sich die Schweiz zum Fürsprecher des Völkerbundgedankens.“ Die Doppelzüngigkeit vervielfachte sich. Neben den Maßnahmen der Fremdenpolizei und dem Völkerbundgedanken suchte die Schweiz auch noch Hände, die am Schweizer Wirtschaftswunder mitarbeiteten. Aber die Menschen, die zu den Händen gehörten, die wollte man nicht unbedingt da haben. Schizophrenie ist ein Fall für die Psychotherapie. Moisés Naim fragt anfangs Juni im Head über seiner Rezension in der Washington Post: „Psychotherapy can solve personal problems – why not national crisis?“ In der Rezension über das Buch „Turning Points for Nations in Crisis“ spricht er dem Autor Jared Diamond allerdings alle Kompetenz zur Beantwortung dieser Frage ab. Unter anderem weil Diamond voraussetze, dass die Nation sich einer Krise bewusst sei und sich mit vereintem Willen, der Übereinkunft aller (.), aus einem Tief heben ließe.
Was also kann Verantwortlichen schizophrener Legislaturperioden oder Regierungen helfen? Und was jenen, die alldem jeweils zustimmen?
Ich lasse die Fragen unbeantwortet.

In der Schweiz der späten Sechziger Jahre machte sich trotz Love, Peace usw. eine sogenannte Überfremdungskrise breit. Nicht allen war eine solche bewusst und eine Übereinkunft war weiter weg, als von den Medien befürchtet. 1970 gewann „der Schwarzenbach“ sein Hetz-Referendum knapp nicht. Die Schweizer Männer waren sich nicht so einig – von einem Wir (Schweizerinnen und Schweizer) kann noch nicht gesprochen werden. Frauen durften da noch nicht an die Urne. Frauen streiken in dem Land übrigens auch heute noch für Gleichberechtigung – wenn auch nur alle paar Jahre.

Das Land ist, auch dank der vielen „Fremden“, eines der reichsten Länder der Welt geworden. Reich an Geld, Wasser und Konventionen. Und im Mai diesen Jahres haben seine Bewohnerinnen und Bewohner bereits alle ihm statistisch theoretisch zur Verfügung stehenden Ressourcen für das Jahr 2019 aufgebraucht. Uns geht es gut. Sagt man dort.

Ich bin zufällig dort geboren.

Mein erstes Wir waren meine Eltern und ich. Ich erinnere mich nicht an die ersten Jahre. Ich erinnere mich zuerst vielleicht daran, dass ich in einem Schwimmbad ertrunken war. Vielleicht träumte ich, wie ich heute noch träume, dass ich unter Wasser atmen kann. Aber dem war nicht so. Menschenköpfe stehen über mir in einem Kreis. Das Bild ist noch ganz präsent. Dann kommt ein anderes Bild. Kindergarten. Wir waren eine große Klasse mit vielen kleinen Kindern. Ich hatte da schon eine schlimme Prüfung hinter mir. Der Weg zum Eignungstest für den Eintritt in den Kindergarten führte über eine schräge Brücke über den Aabach. Ich wurde von meiner Mutter angehalten, meinen Schnuller in den Bach zu werfen. Jetzt bist du groß.
Auf dem Bild ist unsere schöne Kindergartenlehrerin und wir. Ein größeres Wir, ein im zeitlosen Spiel des Kindseins unterbrochenes Wir. Man sieht uns nicht an, woher wir kommen und wohin wir gehen. Unsere Gesichter sind rot. Wir grinsen, hatten uns irgendwie für dieses Bild hingestellt. Die einen schielen zu den anderen, die anderen schauen geradeaus.

Zugezogene
Meine Eltern waren aus zwei verschiedenen Gegenden Zugezogene. Bergmenschen. Sie wohnen in einem Haus, das einer Familie gehört, die in dem Ort verwurzelt ist. Einheimische. Lenzburger. Meine Mutter trifft manchmal eine Freundin, die in der Gegend wohnt und von dort kommt, wo sie hergekommen war. Deren Sohn würde mir einige Jahre später beim Spielen den großen Zeh zertrümmern – nicht absichtlich.
Mein Vater arbeitet tagsüber. Abends dann die ersten Vereinstätigkeiten. Oder Zeitunglesen. Je ein Blatt aus den beiden Gegenden, aus der sie kommen plus die Regionale. Als Zugezogene wollte man sich in der Gesellschaft integrieren. Dazu müssen die Kinder, die bald zur Welt kamen, anständig erzogen werden. Unauffällig, möglichst still. So hat man es gerne gesehen in der Schweiz. Dass neben uns aber Kinder lebten, die das noch viel mehr zu spüren bekamen als ich von meinen Eltern, die sogar unsichtbar waren, stumm spielten, in Estrichen die Tage verbrachten, weil sie nicht da sein durften, konnten wir nicht wissen. Erzählt hat man sich am Tisch nur von den Schlüsselkindern, deren Eltern beide arbeiten müssen. Ausländer. Dass sie viel weniger als die Schweizer verdienten, erzählte man mir zuhause nicht. Erzählt hat man auch, dass sie in schlimmen Wohnungen leben, manche in Kellern. Dass sie das so nicht gewollt haben können, erzählte man nicht. Dass nie jemand von ihnen in einer „solchen“ Wohnung war, davon ist auszugehen. Allzu nahe Kontakte wurden von den Erwachsenen vermieden.
Meine Schulfreundin Anna° lebte in einem Stadthaus über einem Laden. Drei Häuserzeilen von da entfernt, wo der Schwarzenbach vor einem vollen Saal aufgetreten war, um gegen die Überfremdung anzureden. Die Treppe zur Wohnung war schmal, die Stufen hoch. Die Familie wohnte in drei Räumen. Ich fand nur, dass die Dusche in der Küche am falschen Ort war. Doch das war ja nicht ihre Entscheidung gewesen, sie dort zu installieren. Viele Jahre später sah ich wieder eine Dusche mit Küche, bzw. eine Küche mit Dusche. Zufällig. In Zürich. Da war das chic. Eine Freundin wohnte dort, die als Kind von Eltern, die von hinter dem Eisernen Vorhang geflüchtet waren, in der Schweiz aufwuchs. Auch sie wurde zuhause dazu angehalten, sich immer still und anständig und unauffällig zu verhalten.

Von meinem Zimmer aus sah ich die Leuchtschrift der Konservenfabrik Hero. Dort arbeiteten viele jener Ausländer damals. Die meisten waren Italiener. Tschinggen nannte man sie. Auch anders noch. Schlimmer. Sau-Tschinggen. Als Kind bemerkte ich keinen Unterschied, ob jemand von dort oder von da kam. Das war egal. Und wenn ich das so schreibe, dann weiß ich, dass ich mich zum x-ten Mal wiederhole und dass es langweilig ist, immer das Gleiche zu lesen, zu schreiben. Aber es scheint, dass eine weitere Welle ein Wir überrollt, das sich tatsächlich als Menschen einander verbunden fühlt. Jenes Wir wird überrollt, das mit allen vereinbarten Rechten und Pflichten und einem Sinn für die Pflege und die Verantwortung gemeinsam genutzter Orte und Worte nebeneinander – im besten Fall miteinander – zurechtkommt. Die Welle überrollt jenes Wir und alles, was nicht regionalkonform ist, mit Misstrauen. Wer sich auf den Weg macht, um an einem anderen Ort der Welt ein würdiges Leben zu führen, wird zum Voraus mit all jenen über Bord geworfen, die vielleicht tatsächlich nur am schnellen Geld interessiert waren. Man tut so, als ob es jene in den „eigenen Reihen“ nicht gäbe. Der Gürtel ist eng um die humanistischen Werte geschnallt. Wer hilft, wird verdächtigt. Wer sich mit dreißig noch für eine gute Welt engagiert, wird verlacht.
Wer aber sagt, dass die Idee von einer Welt ohne Kriege, überholt sei und dass es menschlich sei, Kriege zu führen, den verlache ich.

Simulation
Ich lebe nicht mehr in dem reichen Land. Wenn es dir hier nicht passt, dann kannst du gehen. Mein Vater schlug mir als Jugendliche die DDR vor. Dort siehst du dann, wie das ist mit dem Kommunismus.
Ich lebe heute in einem anderen reichen Land. Ein Land mit einer gepflegten Hochsprache, mit Hunderten von Jahren teils noch sicht- und fühlbarer Geschichte, mit großmäuligen Politikerinnen und Politikern und bald mehr Regierungskrisen als Regierungen. Italien.
Ich lese La Repubblica online. Hasserfüllte Quotes im Zusammenhang mit einem in Rom ermordeten Carabiniere jagen einander in den sozialen Medien der letzten Tage. Schuld waren Ausländer, die man eh alle ausschaffen müsse. Der Rechtsaußen-Innenminister Matteo Salvini donnert. Dann kommt aus, dass nicht diese Ausländer, sondern andere Ausländer schuld waren. Seither nennt man sie Amerikaner. Es waren zwei junge Amerikaner, die sich nach der Ermordung in ihrem Hotel ins Bett gelegt hatten. Der eine war bei seiner Festnahme geständig. Salvini donnert weiter, wie all die Monate vorher schon, seit er von der Partei, die am meisten Stimmen bekommen hatte, in die Regierungskoalition aufgenommen wurde. Er nutzt sein Amt für seinen persönlichen Feldzug, tut alles, was ihm opportun scheint, um in die Medien zu gelangen. Aufmerksamkeit. Attenzione. Er spricht von einem Wir, von uns Italienern. Prima gli italiani. Das Bild, auf dem er über sein Handy gebeugt auf dem Strandstuhl sitzt, will ich nicht sehen. Ich will seine Haare auf der Brust nicht sehen und auch nicht wissen müssen, dass er einen Bauch hat. Also gelangt mein Blick noch weiter rechts. Dort, neben anderen Aktualitäten, lässt La Repubblica Online Werbung zu. Eine Telefongesellschaft, eine Anmeldung für den Newsletter und rechts, weiter unten, ein Banner „Simulation des 3. Weltkrieges“. Ich klicke auf die Karte, die Länder in Mittel- und Südeuropa zeigt, Frankreich, die Schweiz, Norditalien, Österreich. Panzer fahren hin und her. Irgendwo explodiert eine Bombe. Conflict of Nations World War III. Ein Spiel. Ich sehe Nationenwappen rechts oben. USA, Deutschland, Spanien, Polen, Italien, Frankreich, Russland, Türkei, China, Tunesien, Tschechien. Die Teilnehmerländer?

Was soll das alles?

In Italien gibt das Buch „Cacciateli! Quando i migranti eravamo noi.“ von Concetto Vecchio zu reden. Im Mai bei Feltrinelli herausgekommen, liegt bereits die fünfte Auflage vor. Concetto Vecchio ist im ganzen Land unterwegs, Ende September auch in der Schweiz. In dem Buch beschreibt er die Situation der Italienerinnen und Italiener in der Schweiz der 60er und 70er Jahre. „Jagt sie fort! Als wir Migranten waren.“ so der Titel in Deutsch.
Vecchio ist wie ich in Lenzburg aufgewachsen. Als er vierzehn war packten seine Eltern ihre Sachen und kehrten nach Sizilien zurück. Für ihn war es Migration. Aber nicht von sich erzählt er, er berichtet von vielen Schicksalen, Leben und Ungerechtigkeiten – und doch sagen mir auch die beiden Männer am Strand heute Morgen, mit denen ich zufällig ins Gespräch komme, weil ein Dritter sie gerade ausschaffen will, dass sie es gut hatten in der Schweiz. „Ausländer seid ihr, viel zu viel Pension bekommt ihr, ich bitte Salvini um Hilfe…. (…) Ein Scherz,“ ruft dieser Dritte, der nie weg war. Ich lache mit. Der eine war 36 Jahre in Chur, der andere 5 in Zofingen. Ja, er hatte es gut. Er habe genau verstanden, was sie von ihm wollten.
Arbeitskraft. Hände, die anpacken. Die Schweiz holte mit einem Abkommen die Hände derjenigen, die am Bankett des guten Lebens in Italien nicht teilnehmen sollten, zumindest vorerst nicht. Und trotz aller Hoffnung und der vielen Arbeit, durften sie auch am Schweizer Bankett nicht teilnehmen.
Jetzt, mit der Pension von dort, geht es uns ausgezeichnet hier! sagen sie.
Immerhin.

Wir zuerst.
Wie „es“ in der Schweiz von heute denn „so“ sei, fragt mich niemand. Und weiß ich das tatsächlich? Ich lebe seit bald einem Jahr nicht mehr dort. Mir scheint, dass sich viele um ihr Ich, das Optimieren des Selbst und des Einkommens drehen. Karriere ist wichtig. Auch ich hätte längst eine berühmte Schriftstellerin sein sollen. Man wundert sich, dass ich das nicht bin und ich komme mir wie eine Blufferin vor. Was habe ich denn versprochen? Was erwartet man?
Was weiß ich also!? Dass man in der Schweiz nach wie vor lacht über die Differenzen der Dialekte und dass man dahingehend Präferenzen ausspricht oder auch nicht. Aargauer… Thurgauer… Dass man kaum über Politik spricht und sich darüber nur die Freunde aus Deutschland wundern. Dass man gerne unter sich bleibt und einem das ja eigentlich auch viel lieber ist, als sich noch mehr Konkurrenz auszusetzen, die im Binnenland so schon herrscht. Also rechnet man hoch, ängstigt sich, baut aber auch Wohnungen, viele Wohnungen, denn das rentiert. Und wenn niemand mehr kommt und das dann nicht mehr rentiert? Dann „hat man dann das Geschenk“ oder vielleicht doch neue Erkenntnisse? Einen Erkenntnisgewinn, um es auch monetär auszudrücken.

Dass die Zeit für eine andere Vorgehensweise beim Erkenntnisgewinn reif sei, denkt nicht nur Sandra Mitchell in ihrem Buch „Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen.“ Doch vielleicht ist die Zeit erst jetzt (das Buch erschien zwar schon 2008 auf Deutsch) wirklich reif. Ich will und kann kein Fragezeichen hinter diesen Satz setzen, er würde rhethorisch wirken, keine Antwort wollen, keine Auseinandersetzung. Aber genau das fordere ich. Auseinandersetzung. Obschon ich große Zweifel an der Bereitschaft einer Mehrheit hege, differenziert und offen und menschlich wie jedem Einzelnen möglich hinzuschauen und sich zu überlegen, wie man die Welt in Begriffe fasst, wie man sie erforscht und wie man handelt und sich schließlich immer zu überlegen, sich also damit auseinanderzusetzen: In was für einer Welt wollen wir leben? Wie wollen wir leben?

Die Schweizerische Volkspartei betreibt seit Jahren das Geschäft mit der Angst vor den anderen, dem Fremden. Sie hat von Schwarzenbach den Stab übernommen. Manchmal will sie dann halbstarke Änderungen in die Verfassung schreiben und manchmal schafft sie das. Dafür setzt sie Initiativen ein, die besser Umfragen wären als gesetzeswirksam sein zu wollen. Das Abgrenzungsgeschäft ist ein Betrug und dazu noch absolut unnötig, denn die Abhängigkeit von anderen, auch von „Fremden“, liegt in der Natur des Menschseins. Also vertreiben wir uns die Zeit doch besser mit der Konzentration auf Kooperation, auf würdige Lebensweisen, auf die Veränderung der Dinge, damit sie gut laufen. Die Schweiz hat so oft gezeigt, dass es doch geht mit dem Nebeneinander, sogar mit dem Miteinander. Plötzlich gab es dann sogar die besseren Ausländer, also die Italiener zum Beispiel. Die waren dann besser als die, die aus Sri Lanka kamen und plötzlich sprachen auch die Italiener von den Ausländern. Das waren die, die nach ihnen kamen.

Viele haben Spaß beim Abgrenzen und glauben gern Polemikern, die mit ihrer Lebenssituation überhaupt nichts zu tun haben, dafür aber einfache Worte finden für komplexe Zusammenhänge, sich auch erlauben, nur einen Aspekt zu formulieren und keinen Zweifel zu äußern. So war das auch damals mit dem eingangs erwähnten James Schwarzenbach und seinen Vorstößen gegen die „Überfremdung“. Er hat „es“ vielleicht sogar erfunden, das mit dem modernen Populismus. Europa beobachtete ihn damals kopfschüttelnd, außer vielleicht die Untergetauchten und Umgetauften der vorangehenden faschistischen Regime – und Portugal und Spanien waren da sogar noch in faschistischen Händen. Heute reden die Populisten wie er und klopfen sich gegenseitig auf die Schulter. Wir Schweizer zuerst. Sagte der Schwarzenbach. Ausländer raus! Italiener zuerst, sagt Salvini. Die Amerikaner zuerst, sagt der reiche Mann mit der schlimmen Frisur in den USA. Wobei ich jenem nicht zutraue, dass er im Geschichtsunterricht je etwas gelernt hat – aber er hatte ja instruierte Einflüsterer mit breiten Bärten.

Amerika
Um nun nicht zu sagen, dass sich nie etwas verändert in dem Land, wo nach wie vor keine Zitronen blühen (die Klimaerwärmung wird das ändern), sage ich also, dass sich das Land und seine Stimmberechtigten dahingehend eventuell verändert haben, dass sie mit demokratischer Selbstgerechtigkeit zulassen, dass die Verfassung herhalten muss für Zugaben, die ihr im tiefsten Inneren widersprechen. Die Schweiz sagt gerne von sich, dass sie die älteste Demokratie sei. Das stimmt nicht, aber belehren lassen sich Menschen ja nicht gerne, deshalb soll googeln wer will. Ich meine nur… an manchen Schweizer Abstimmungen beteiligen sich nur knapp 30% der Stimmberechtigten. Die entscheiden dann über die „älteste Demokratie“.
Was in der Schweiz alt ist, wird abgerissen, neu gebaut. Auch die Demokratie also? Man wandelt selbstgewiss durch die Europaallee, tritt auf als kleines Land, will bilateral verhandeln (und kommt nicht auf einen grünen Zweig) und tut trotzdem so, als sei man eine unabhängige Insel, subventioniert Banken (weil too big to fail – und es rentiert ja auch noch, wie man heute weiß), geht in Europa einkaufen und fordert am Zoll die Mehrwertsteuer zurück.
Ist das die Schweiz, die ich verlassen habe? Sie mag anders sein als ich sie sehe. Und ich möchte genau in diesem Zusammenhang noch einmal Sandra Mitchell zitieren: „Es wäre anmaßend zu glauben, es gebe nur eine einzige wahre Vorstellung von Welt, die deren natürliche Arten vollkommen abbilden würde. Jede Vorstellung ist bestenfalls auf einen Ausschnitt bezogen, idealisierend und abstrakt.“ Vielleicht ist die Schweiz ja doch noch voller humanistischer Werte, die man ihr auch dank Genf und Bern und den internationalen Institutionen nachsagt. Für mich ist sie das Land wo Freundinnen und Freunde leben, das Land der tausend Möglichkeiten, um frei zu arbeiten und Projekte zu verwirklichen. Ein Land mit einer aktiven Kunst-Szene, einer (relativ gut-entwickelten) Toleranz für LGBTQ+ Menschen und ja, auch mit der „Sternstunde Philosophie“!

Fehlt noch was?
Großzügiger könnte sie sein, sie, die alles hat. Sie, die alles haben. Ja, Menschen gegenüber großzügiger. Menschen in Not aufnehmen und nicht zuerst fragen, wer das alles bezahlt. Menschen, die anders sprechen, verstehen wollen. Den obersten Chinesen kein Fondue auftischen. Jene, die ein neues Leben beginnen müssen oder wollen, unterstützen. Gastfreundlich sein, auch gegenüber Touristen aus Pakistan, die am Steg ein Boot mieten wollen, um auf einem kleinen Bergsee einmal rundherum zu rudern. Oder es mit Englisch versuchen, mit Händen und Füßen und einem Lachen, um einen Weg zu erklären. Doch wie oft hört man: Wir sind hier schließlich in der Schweiz. Hier spricht man Deutsch (.).
Hier tönt das Gleiche übrigens so: Qui siamo in Italia. Si parla Italiano.

Wohin führt das?

Verantwortung
Die Angstmache von Männern und Frauen, die gegen das Andere, Fremde, kämpfen, geht hoffentlich nicht in einem dieser unheimlichen WWIII Spiele, auf dessen Banner ich online gestoßen bin, weiter, sondern in der Begegnung, dem offenen Dialog, dem Suchen und Finden. Es gibt Wege, die aktuellen Migrationen friedlich zu leben und zu erleben. Durch das gegenseitige Akzeptieren der Verschiedenheit aller Betroffener. Dabei ist zunächst das Gemeinsame zu pflegen und nicht das, was man beim anderen nicht versteht. Nur das Gemeinsame liegt naturgegeben in der Zukunft, denn es wird zusammen konstruiert, wird erst dann Geschichte.
Oder ist das Utopie?
Einst war die Schweiz eine Utopie, zumindest ein Beispiel für eine bessere Welt in der Literatur. Doch in der Schweiz meiner Kindheit wehte über Jahre der Restwind des Schwarzenbach-Gewitters. Die Eidgenossen pflegen eine Tradition gegen das Fremde. Nach Schwarzenbach blocherte der Mann, der nie Bauer war, mit der Bauernpartei durch die hölzigen Sääli in den Wirtshäusern. Die Masseneinwanderungsinitiative wurde im kalten Februar 2014 von einer Mehrheit der Stimmberechtigten angenommen. Ihr habt Ja gesagt (?), meinten Freunde im Ausland.
Ihr. Wir. Ich nicht.

Wir, ich… wer trägt die Verantwortung?

Die Kinder derjenigen, die der Hass und das Misstrauen der Sechziger und Siebziger Jahre traf, fragten mich nie nach meiner Gesinnung oder der Gesinnung meiner Eltern. Ich glaube nicht, dass ich den Namen Schwarzenbach damals gehört habe. Sie haben ihn gehört. Aber sie begnügten sich mit Freundschaft oder auch einfach damit, dass wir friedlich nebeneinander die Schulbänke drückten und das Leiden an Lehrerinnen und Lehrern°° gemeinsam durchstanden. Ich hoffe, das ist nach wie vor so unter Kindern. Sonst haben die Erwachsenen, also jene, die wie ich damals Kind waren, aus meiner Sicht etwas Wichtiges nicht gelernt.

Cacciateli! Jagt sie fort!
Ende September stellt der Autor von „Cacciateli! Quando i migranti eravamo noi.“ sein Buch in Zürich und Lenzburg vor. Nächstes Jahr erscheint es auf Deutsch. Concetto Vecchio hält mit seinem Erzählen, das er dank tiefgreifender Recherchen, Interviews mit Betroffenen und dem Berichten seiner Eltern geschrieben hat, vielen Italienerinnen und Italienern von heute einen Spiegel vor. Sie erinnerten sich nämlich nicht mehr, impliziert das Buch. Die Lega del Nord und die Brüder Italiens (Fratelli d’Italia), die von Frau Meloni angeführt wird, kämpfen lautstark gegen Ausländer, Fremde, Stranieri. Sie ziehen sprachlich jeden Tag die untersten Register.
Das Buch empfinde ich aber auch als Spiegel für die damaligen Schweizerinnen und Schweizer, die opportunistisch nur Arbeitskräfte importiert hatten und manch eine/r hätte vielleicht menschlich von diesen „Ausländern“ etwas lernen können, als sich weiter nur auf sich selbst zu beziehen und in jedem Fall recht zu haben. Ein Bild auch davon: Ter müesset losä was i sägä, wenn i s de scho sägä. Ruft der Vorarbeiter in „Znüni Näh“ von Stiller Has. Viel mehr als die Arbeit zu erklären, sagt er in dem Stück nicht.

Ein Freund meinte letzthin, dass man die Dinge nicht ohne die Zeit, in der sie geschahen, anschauen darf. Aber lernen hieß immer schon verändern und entwickeln, sich selbst und das, was man bisher konnte. Veränderung bedeutet aber nicht immer Entwicklung. Um es monetär zu formulieren: Entwicklung bedeutet Investition. Ohne zu riskieren, dass man wirklich etwas lernt oder eben gar nichts, geht es also nicht. Im esoterischen und im psychologischen Sprachgebrauch bedeutet Entwicklung unter anderem auch Loslassen. Man löst sich von einem Traum, um dank mehr Wissen Erkenntnisse zu bekommen, klarere, vielleicht gerechtere Vereinbarungen zu treffen, andere Blickwinkel einzunehmen. Man löst sich auch von der Poesie des Reinen, Unangetasteten, der Idee, vom Mystischen, schließlich von den Grundsteinen der Traditionen und Bräuchen, die hinterfragt und entzaubert gehören. Sie wirken identitätsstiftend, sagen die Verfechterinnen und Verfechter. Aber in Lenzburg, dort wo ich geboren wurde, kriegen am Jugendfest die Vereine gegen die Schuljugend. Die Fremden gegen die Einheimischen. Das Manöver findet alle zwei Jahre statt. Die Kriegerinnen und Krieger schießen mit Platzpatronen, die sie wahrscheinlich nicht von der Schweiz-eigenen Waffenfabrik beziehen, die dem Staat jahrelang höhere Preise als den saudischen Prinzen verrechnete. Vielleicht beziehen sie die Patronen aus China. Aber in Lenzburg gewinnen immer die Einheimischen.

Happy Birthday!
Die Schweiz begeht immer am 1. August den Nationalfeiertag. Ich hoffe, dass solche Feiern eines Tages nicht mehr stattfinden. Denn was bedeutet es, Schweizer, Schweizerin zu sein? Italiener, Italienerin? Afghanin, Syrer, Nigerianerin, Deutscher. Zufall. Die Nation spielt keine Rolle bei der Menschwerdung. Menschen tragen irgendwann die Verantwortung für die Gestaltung ihrer Leben und für den Umgang mit ihren Prägungen. Dabei ist er/sie Teil eines grenzen- und flaggenlosen Ganzen, ohne das niemand auskommt und von dem sie/er abhängig ist, so lange er/sie lebt – auch wenn sie/er sich darüber erhebt.

°Name geändert
°° Wir hatten auch wunderbare Lehrerinnen und Lehrer!

*
Sibylle Ciarloni, Ende Juli/anfangs August 2019

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J. Monika Walther gewidmet.

*
Im Beitrag erwähnte Literatur:

Sandra Mitchell
Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen.
Edition Unseld Suhrkamp

Willi Wottreng
Ein einzig Volk von Immigranten
Die Geschichte der Einwanderung in die Schweiz.
Orell Füssli Verlag

Concetto Vecchio
Cacciateli! Quando i migranti eravamo noi. Feltrinelli
D: Jagt sie fort! Orell Füssli

Morton Rhue
Die Welle (The Wave)
Deutsch von Hans-Georg Noack

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