Zum ersten Mal wurde mir die Schwierigkeit im Umgang mit Menschen, die an Demenz erkrankt sind, in zwei fast zeitgleichen Geschehnissen bewusst. Eine Bekannte behauptete, ich hätte ihr ein Bild gestohlen. Auch ihr Bruder, der schon Jahre zuvor gestorben war, tauchte bei ihr auf und lebte mit ihr. Träume, in denen sie Dinge kombinierte, die nicht so geschehen waren, sind für sie Wahrheit geworden und nichts konnte sie von etwas anderem überzeugen. In jenen Tagen las ich zudem in der Zeitung von einem Mann, der verschwunden war und dessen Partnerin ihn überall suchte, da er nicht wisse, wohin er gehöre. Ich erinnere mich an meinen Gedanken, dass er vielleicht nicht mehr wissen wollte, wohin er gehöre.

Das war – zugegeben – kein Gedanke, der auf Wissen basierte, es war eine Interpretation und ich schob den Spaltpilz aus meinem Hirn. Auch wenn an der Idee, dass man sich eines Tages entscheiden wollen könnte, woran man sich erinnert und woran nicht, doch etwas ist. Es gibt Menschen, die glauben, dass sie das können, sie werfen weg, woran sie nicht denken wollen und so geht es dann auch. Das mit dem unbesorgten Leben, wie es in den Optimierungsbüchern steht.


Doch was ist weg, wenn man nicht mehr daran denkt? Und was geschieht, wenn man wirklich vergisst und sich nicht oder anders erinnert? Solange jemand nur sich selbst gegenübersteht, geschieht wohl genau nichts. Doch was ist mit jenen, die Teil des persönlichen Erinnerns und Teil also des Lebens sind, des gemeinsamen Gehens, Aufwachsens, Liebens, Reisens, Wohnens, Austauschs. Schon in einem noch normal-präsenten Zustand erinnert man sich ja nicht immer, selbst nicht an alle Geschehnisse, das man zusammen erlebt hat. Und oft ist es wie bei einem Buch. Drei Menschen lesen das gleiche Buch und alle erzählen anders über das Gelesene.

Was bleibt also von der Gemeinsamkeit mit den Partnern, den Freundinnen, den Geschwistern, wenn auch in der Erinnerung langsam verlorengeht, was man geteilt hat und vielleicht nur noch das gezeichnet bleibt, was für die Erzählung der jetzigen, eigenen Geschichte wichtig ist? Und ist es wichtig, dass etwas bleibt?

Es sind rhetorische Fragen für den Moment. Sie müssen vielleicht im vorsichtigen Austarieren beider Erzählungen, im sozusagen fast demütigen Akzeptieren des anderen Wahrheit unbeantwortet bleiben, um nicht in einen Zwist zu geraten, der unschön hasserfüllt werden kann, wenn der eine dem anderen sagt, es sei so gewesen und auf gar keinen Fall so, wie das Gegenüber sich erinnert.

 

Mit diesen unvollständigen Überlegungen über das Erinnern und die Vergänglichkeit will ich auf ein Buch des Fotografen Julian Salinas hinweisen, bei dem ich mitarbeiten durfte: Für demenzkranke Menschen eine Umgebung zu gestalten, in der sie sich wohlfühlen, ist nicht nur eine Herausforderung für Pflegende und Angehörige, sondern auch für Architekt*innen und Künstler wie Julian Salinas, der im Rahmen der Kunst am Bau Vergabe gearbeitet hat. Für die Innenräume des Demenzheims neues marthastift in Basel hat er eine Fotoarbeit geschaffen, die mit der Erinnerung an Vertrautes spielt. Seine Fotografien zeigen Basel, die Stille, das Alltägliche, das Vertraute in den Quartieren. Die fotografischen Momentaufnahmen werden begleitet von Beobachtungen, die Karen N. Gerig zu jedem Stadtquartier verfasst hat und von meinen Dreizeilern, in denen ich zusammen mit Martha der Vergänglichkeit und dem Erinnern auf der Spur bin …über den Amselmann, den Hut, den Stock, den Regenschirm oder dass nur noch fehlte, sich in Englisch zu verlieben… Home is where you are!

Es sind kurze Beiträge, doch freue ich mich sehr, Teil dieses Projekts geworden zu sein.

Julian Salinas
Wo ist Martha?
Fotografische Momentaufnahmen aus Basel.
Erschienen im Christoph Merian Verlag.
Mit einem Beitrag der Architekten Müller & Naegelin, Basel.
Gestaltet von Beat Roth, portolibro in Basel.

Beitragsbild: Sibylle Ciarloni, 2023, Venezia Centrale Elettrica
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