Es ist nach wie vor nicht klar, ob nur ich es war, die sich all das eingebildet hatte…

Herbert hält mir wortlos die Tür auf. Ich lächle. Er kippt seinen Kopf in den Nacken. Ich ziehe meinen Rollkoffer über die Schwelle, während er durch den dunklen Korridor zum Fahrstuhl eilt und auf den rot leuchtenden Knopf drückt. Schon schieben sich die Metallflügel auseinander. Ich bleibe vor dem hellen Fahrstuhlraum stehen. Er öffnet seine linke Hand und schiebt mich mit seinem rechten Arm schon mal angedeutet in den Fahrstuhl. Ich verstehe und schiebe mich dann selber durch die schon schließenden Türflügel. Dratsch. Noch einmal gehen sie auf. Wir sind drin. Ich bin mit Herbert allein.

Während wir gleichzeitig zu den Tasten langen, kann ich seinen Duft riechen. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, dass einer meiner Italienischlehrer den gleichen getragen hatte. Er bestellt sich in den vierten, ich mich in den ersten Stock. Kouros. Duft verwegener Schöngeister. Zwei Welten. Herbert. Fernando.

Ich steige aus. Er kippt seinen Kopf erneut nach hinten und gibt einen kehligen Laut von sich. Wir waren nicht mal eine Minute zusammen und ich bekomme von ihm einen Ton, die eindeutige Schiebebewegung und ein Lächeln, das ich zwar nur im Spiegel sehe – aber immerhin. Das war ganz neu. Während ich meinen Rollkoffer aus dem Fahrstuhl rolle, die Türflügel sich hinter mir zuschieben und er aus meinem Blickfeld verschwindet, bin ich glücklich. Auch während ich dann lausche, wie er oben in seinem Penthouse die Tür aufschließt und eintritt. Herbert hatte kein Gepäck bei sich. Sicher war er schon vor mir angekommen und hatte noch geduscht, war dann vielleicht hungrig runter zum Vietnamesen geeilt, der mit den bleichen Teigtaschen, den blauen Teekrügen und diesem Bestellsystem, wo man beim Bestellen am Tresen seinen Namen nennen musste. Er hatte sich vielleicht drei Teigtaschen bestellt und einen Jasmintee. Es dauert nicht lange, sagt die junge Frau hinter dem Tresen leise. Eine Minute. Sie hatte mit dem Zeigefinger, dem kleinen Finger oder auch dem Daumen, nach oben gezeigt, um die Minute in ein Zeichen zu übersetzen. Herbert hatte dann wahrscheinlich genickt oder seinen Kopf in den Nacken geworfen. Dann hatte er an einem Tisch gewartet und als sein Name ausgerufen wurde, stand er auf und holte die bleichen Teigtaschen. Beim Essen hätte er, wie möglicherweise vorher, während des Wartens, in einer Kunstzeitschrift geblättert, damit die Leute ihn nicht gleich nicht erkannten.

Im vierten Stock schließt er jetzt die Penthouse-Türe. Er dreht die Schlüssel, einmal, zweimal, und ich höre nichts mehr von ihm. Er ist älter geworden. Berühmter. Niemand würde ihn ansprechen. Ich würde ja schon. Doch ich bin nicht so oft in der Stadt und wenn ich da bin, kann ich doch nicht die ganze Zeit auf der Treppe sitzen und warten, bis er vorbeikommt und ich ihn ansprechen kann.

Am nächsten Tag kommt er mir auf der Strasse entgegen. Er trägt eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern, hebt seine Hand zu einem Gruss. Er hebt sie nur leicht an. Dann wirft er wieder seinen Kopf in den Nacken und gibt mir den zweiten kehligen Laut. Er hatte mich erkannt!

Am Abend sitzt er eine Reihe vor mir im Theater. Die drei Schauspielerinnen sprechen bereits. Ich kann mich kaum konzentrieren. In Gedanken spiele ich durch, wie ich mich leicht seitlich links vorbeuge und ihm auf die Schulter zu tippen. Ich könnte ihm auch die Hand sanft auf seine Schulter legen oder ihn in den Oberarm boxen. Einmal habe ich mich einem alten Freund so in Erinnerung gerufen. Einem, den ich schon richtig lange nicht mehr gesehen hatte und der dann eines Tages in einer belebten Bahnhofshalle zufällig wenige Meter neben mir vorbeiging. Ich hatte mich rasch genähert und ihn so seitlich in den Arm geboxt, ich sagte „Hey!“ und boxte ihn. Ruckartig drehte er sich zu mir, die Augen misstrauisch zusammengekniffen und eine Hand bereits am Pistolenlauf. Natürlich glättete sich die steile Falte zwischen den Brauen als er mich erkannte. Er war Polizist geworden, an dem Tag in Zivil am Observieren.

Der Applaus weckte mich. Ich erschrak. Herbert war weg. Hatte ihn das Stück gelangweilt oder musste er aufs Klo? Ich sah mich um und konnte ihn nicht finden. Die Leute hörten nicht auf zu klatschen. Ich klatschte mit, denn es war schon schlimm genug, dass ich eingeschlafen war. Die Schauspielerinnen freuten sich über den Applaus und hörten nicht auf, sich zu verbeugen und hinter und unter dem Vorhang durchzurennen, sich wieder zu zeigen und als der Applaus schon fast abgeklungen war, da kamen sie noch einmal. Auf dem Nachhauseweg dachte ich, dass ja Herbert vielleicht noch irgendwo ein Bier trinkt und schaute unauffällig in die Kneipen am Weg.

Am nächsten Tag schneite es noch immer nicht wie eigentlich seit Tagen angekündigt. Am Nachmittag hörte ich Schritte im Treppenhaus. Vielleicht ist das Herbert, dachte ich. Doch ungekämmt, im Pyjama, ohne einen Tropfen Make-up und mindestens Mascara an den Wimpern, konnte ich niemals vor die Wohnungstür treten und beispielsweise so tun, als ob ich auf dem Gang meine Schuhe suchen würde.
Am Abend ging ich zum Vietnamesen mit den schönen Teigtaschen. Es roch nach Zitronengras und Ferne. Die Fenster waren beschlagen. Die Dunkelheit blieb draussen. Nahe der Theke sass Herbert. Er befand sich tatsächlich am selben Ort wie ich, ohne dass ich etwas organisiert oder gar inszeniert hatte. Ich war glücklich. Als er mich bemerkte, kippte er kurz den Kopf nach hinten und aus seiner Kehle kam das bekannte Geräusch an mich. Er blätterte in einer Kunstzeitschrift. Ich setzte mich neben ihn und bereute es sogleich, denn ich wusste nicht genau, was ich jetzt sagen sollte. Ich konnte ihn in den Oberarm boxen und Hey sagen. Ich konnte ihm endlich sagen, wie ich heisse. Und dann würde ich sagen, Du bist doch Herbert und er würde vielleicht denken, was ist das denn für Eine und wann sind meine Teigtaschen endlich fertig, hatte die Tante nicht gesagt, dass es nur eine Minute dauern würde? Vielleicht aber dachte er anders. Vielleicht dachte er, wow, endlich treffe ich die mal so per Zufall wieder, ich hätte sonst mal klingeln müssen bei der, doch das wär ja auch nicht so meins, es muss schon einfach so passieren, sag ich ja immer, und siehe da, da sitzt die jetzt neben mir.

Es war noch keine Minute vergangen.

Herbert lächelte schief.

Hey?

Hey!

Und genau in dem Moment rief eine Stimme von der Theke „Markus“ und Herbert stand auf, aus seiner Kehle kam nichts, doch er warf den Kopf zurück, zwei Schritte bis zur Theke, ein Griff zur Papiertüte, schon war er bei der Tür und weg. Mit meiner Hand wischte ich mir am beschlagenen Glas ein Fenster nach draussen frei.

 

Bild: Sibylle Ciarloni, 2022

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